Prädiktive Medizin

Dr Joëlle Michaud & Dr Goranka Tanackovic

Chief Scientific Officer and Chief Executive Officer & Gene Predictis SA, EPFL Innovation Park, Lausanne

Juli 14, 2021

Wie kann man altersbedingten Krankheiten besser vorbeugen? Wie kann man die Behandlung mit mehreren Medikamenten im Alter optimieren, um Wechselwirkungen zu vermeiden? Die Antwort steckt in unserer DNA und in unseren Genen.

Als Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit über mehr als 10 Jahre wurden 2003 die 3 Milliarden Buchstaben des ersten menschlichen genetischen Codes sequenziert und entschlüsselt. Ein kleiner Teil dieses Codes (3 Millionen Buchstaben) ist bei jedem Menschen anders und bildet die Grundlage der menschlichen Vielfalt. Eine bestimmte genetische Variation, die von den Eltern weitergegeben wurde, ist für blaue Augen verantwortlich, eine andere für das lockige Haar, das seit Generationen in manchen Familien vorhanden ist.

Die Entschlüsselung des genetischen Codes war ein Riesenschritt und eine entscheidende Etappe beim Verständnis unserer DNA. Sie war allerdings nur der erste Spatenstich auf einem neuen wissenschaftlichen Feld namens Genomik. Für die Medizin sind die Genomik und die Entwicklung von Technologien namens Polymorphismen, mit denen diese genetischen Unterschiede gelesen werden können, eine neue Wissensquelle, um die Risiken für bestimmte Krankheiten zu ermitteln.

Zahlreiche altersbedingte Krankheiten wie Diabetes, Osteoporose, Thrombosen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind multifaktorielle Krankheiten, die sich unter dem Einfluss mehrerer Risikofaktoren entwickeln. Zu diesen Risikofaktoren gehören sowohl verhaltensbedingte Faktoren wie Übergewicht, eine sitzende Lebensweise oder Zigarettenkonsum als auch spezifische genetische Variationen. Die Kombination all dieser Faktoren erhöht das Gesamtrisiko für eine solche Krankheit. Das alleinige Vorhandensein von genetischen Unterschieden, die wir nicht beeinflussen können, ist somit nicht ausschlaggebend für eine tatsächliche Erkrankung. Daher ist es wichtig, auf die anderen, beeinflussbaren Faktoren einzuwirken, beispielsweise durch die Anpassung von Ernährungsgewohnheiten oder Verhaltensweisen, wenn ein Patient ein genetisches Risiko aufweist.

Thrombose ist ein Beispiel für eine Krankheit, bei der Prävention eine wichtige Rolle spielt. Sie entsteht durch eine erhöhte Gerinnungsneigung, die zur Bildung eines Blutgerinnsels führen kann, das den Blutkreislauf blockiert. Wenn sich das Gerinnsel in den Blutgefässen bewegt, kann es zudem eine Lungenembolie oder einen Schlaganfall auslösen. Die Entstehung einer Thrombose wird von verhaltensbedingten Faktoren wie Zigarettenkonsum und Übergewicht beeinflusst, zum Grossteil jedoch auch von genetischen Faktoren. Dank der Entwicklung der Genomik kennen wir mittlerweile die genetischen Unterschiede, die das Thrombose-Risiko erhöhen. Die Erkennung dieser Variationen ermöglicht es, der Entstehung von Thrombosen bei Risikopatienten in Situationen, welche die Entstehung der Krankheit begünstigen, gezielt vorzubeugen, beispielsweise bei längerem Liegen nach einer Operation, in der Schwangerschaft und nach der Geburt, auf langen Reisen, bei der Einnahme der Pille oder einer Hormonersatztherapie. Für Frauen in der Menopause ist die Einnahme von Hormonen zur Behandlung von Beschwerden in den Wechseljahren nicht ungefährlich. Die Entscheidung für eine solche Behandlung wird in der Regel nach einer genauen Abwägung der Vor- und Nachteile getroffen. Einer der Nachteile ist die Erhöhung des mit dem Alter sowieso schon steigenden Thrombose-Risikos. Frauen, die mit einer Hormonersatztherapie behandelt werden, haben verglichen mit einem 20ig-jährigen Mädchen ein deutlich erhöhtes Risiko. Daher müssen unbedingt alle anderen Risikofaktoren bewertet werden, insbesondere die Genetik, die das Thrombose-Risiko der Patientin insgesamt noch weiter erhöhen kann. Durch die vorsorgliche Untersuchung der Genetik können Thrombosen bei gefährdeten Personen durch den Rückgriff auf alternative Behandlungsmethoden oder die Anpassung der Hormondosis vermieden werden.

Osteoporose ist eine weitere altersbedingte Krankheit, für die abhängig von der Genetik des Patienten eine gezielte, individuell abgestimmte Prävention möglich ist. Diese Krankheit verringert die Knochenmasse und führt somit zu einem erhöhten Risiko für Knochenbrüche. Das Erbgut des Patienten trägt stark zum Krankheitsrisiko bei. Es wurden zahlreiche genetische Variationen identifiziert, die mit dem Osteoporose-Risiko in Verbindung gebracht wurden. Bei Personen mit einem genetischen Risiko sind Präventionsmassnahmen wie eine optimale Kalziumzufuhr, regelmässige Bewegung und eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung durch Sonneneinstrahlung oder über die Ernährung erforderlich. Die Kenntnis dieser genetischen Risiken würde es somit ermöglichen, so schnell wie möglich frühzeitig präventiv zu handeln.

Für andere Krankheiten wurde das genetische Risiko noch nicht oder nur teilweise identifiziert. Für Diabetes Typ II konnten beispielsweise 150 genetische Variationen als Risikofaktoren ermittelt werden, die das Gesamtrisiko für die Krankheit jedoch nur sehr gering beeinflussen. Für diese Krankheiten ist ein Screening der gefährdeten Personen im Rahmen der Vorsorge daher zurzeit nicht besonders hilfreich. Es kann jedoch interessant sein, insbesondere bei Personen mit einer familiären Vorgeschichte von Diabetes Typ II. Einige Studien belegen, dass sich das Bewusstsein in Bezug auf ein genetisches Risiko positiv auf das Verhalten und die Annahme eines gesünderen Lebensstils auswirkt.

Die Genomik hat zudem zahlreiche Forschungen zur individuellen Reaktion auf Medikamente und deren Verbindung mit der DNA ermöglicht. Das Auftreten von Nebenwirkungen oder die ausbleibende Wirkung von Medikamenten bei gewissen Patienten können zum Teil ebenfalls durch genetische Variationen erklärt werden. Diese Unterschiede im genetischen Code des Patienten befinden sich in den Genen, die Enzyme namens Cytochrome kodieren. Sie sind für die Umwandlung von Medikamenten in unserem Körper verantwortlich. Einige Medikamente müssen in einen aktiven Wirkstoff umgewandelt werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Andere müssen umgewandelt werden, um vom Körper ausgeschieden zu werden und Nebenwirkungen zu vermeiden. Cytochrome sind für die meisten dieser Umwandlungen verantwortlich. So spielt das Cytochrom CYP2C19 beispielsweise die Hauptrolle bei der Aktivierung von Clopidogrel, einem Blutgerinnungshemmer, der unter dem Handelsnamen Plavix oder Clopidrax bekannt ist. Dieser Blutgerinnungshemmer wird in der Regel nach einem Herz-Kreislauf-Vorfall verschrieben, um eine Thrombose zu verhindern. Wenn der Wirkstoff nicht aktiviert wird, zeigt das Medikament keine Wirkung und die Patienten laufen Gefahr, weitere Gefässerkrankungen zu entwickeln. Bei 30 % der Patienten liegen genetische Variationen vor, die die Aktivierung von Clopidogrel teilweise verringern, während 5 bis 10 % der Patienten genetische Variationen aufweisen, die die Aktivierung von Clopidogrel komplett verhindern. Bei ersteren ist eine alternative Behandlung dringend angeraten, da Clopidogrel keine Wirkung zeigt. Bei letzteren müssen die Nebenwirkungen eng überwacht werden.

Ein gezieltes Screening für genetische Variationen in den Cytochromen wäre äusserst hilfreich, auch bei Patienten, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen müssen, was bei älteren Menschen häufig der Fall ist. Bei diesen Patienten sind Nebenwirkungen häufiger, da die Medikamente miteinander in Wechselwirkung treten. Das Vorhandensein von bestimmten genetischen Variationen erhöht diese Nebenwirkungen zusätzlich. Ihre frühzeitige Erkennung könnte dem Patienten daher Unannehmlichkeiten, ungeplante Krankenhausaufenthalte und zusätzliche Kosten ersparen.

Die Nutzung des genetischen Wissens durch die Ärzte wird es erlauben, die Präventionsmassnahmen für zahlreiche Krankheiten zu erhöhen und medikamentöse Behandlungen mit individuellen Therapien zu optimieren.

Die Kenntnis des eigenen genetischen Risikos, begleitet von individuell abgestimmten, professionellen Ratschlägen, ist für den Patienten ein deutlich überzeugenderer Beweggrund, etwas an seinem Verhalten zu ändern, als die allgemeinen Empfehlungen für die Bevölkerung.

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