Die Mikrobiota, der Stern am Forschungshimmel?

Pr. Francisca Joly

Abteilung für Gastroenterologie, (MICI et Assistance Nutritive), Frankreich

Januar 11, 2022

Was ist Mikrobiota?

Dank der Fortschritte der Molekulargenetik, ist es möglich, das Genom der 100000 Milliarden Bakterien in unserem Verdauungstrakt zu beschreiben. Diese mikrobielle Lebensgemeinschaft im Darm nannte man Darmflora, jetzt heisst sie Mikrobiota (aus dem Griechischen: mikro = klein und bios = Leben). Diese menschliche Mikrobiota ist ein komplexes Ökosystem von über 1014 Mikroorganismen (hauptsächlich Bakterien) im Darm und enthält mehrere Tausend verschiedene Arten. Die Zusammensetzung variiert je nach Stelle im Darmtrakt. Die Anzahl an Bakterien erhöht sich, je mehr man sich dem Dickdarm nähert. Mit der Entwicklung neuer Analysetechniken, insbesondere in der Genetik, konnten spektakuläre Fortschritte im Verständnis dieses Ökosystems gemacht werden. Drei grosse Gruppen von phylogenetischen Bakterien oder Phyla (Stämme) (Firmicutes, Bacteroidetes, und Actinobacteria) und sechs Sorten Bakterien (Bacteroides, Eubacterium, Clostridium, Enteroccocus Bifidobacterium und Lactobacillus) stellen 90% der Bakterienarten bei allen Individuen. Firmicutes und Bacteroidetes sind die am Häufigsten vertretenen Arten und bilden 70% der menschlichen Mikrobiota.

Das Mikrobiota ist wesentlich für die Abwehrkräfte gegen Pathogene, die Ausbildung des Immunsystems, die Immunmodulation, die Energieversorgung, das Erneuern des Epitheliums und für das Gleichgewicht des Stoffwechsels. Selbst wenn die Zusammensetzung der Mikrobiota für jede Person spezifisch ist, sind die metabolischen Funktionen dieser Mikrobiota beim gesunden Menschen beständig. Die Darmflora ist ein Sammelbecken von bakteriellen Funktionen, die für die grosse Mehrheit unter uns dieselben sind.

So besteht dieses umfangreiche Ökosystem aus Hunderten von Tausenden von Milliarden Bakterien, die zahlenmässig die menschlichen Zellen übersteigen und so zahlreich sind wie Sterne am Himmel. Es siedelt sich in den ersten Minuten des Lebens an, in dem Moment, wo das Neugeborene bei einer vaginalen Geburt in den Geburtsgang (Vagina) der Mutter eintritt. Bei der Geburt wird es sogleich mit seinen ersten Bakterien versorgt. Die Mikrobiota ist erst ab 3 oder 4 Jahren definitiv festgelegt und wird sich im Laufe des Lebens wenig entwickeln. Sie ist sozusagen unser einmaliger genetischer Fingerabdruck. Als Gegenleistung für Kost und Logis, nehmen die freundschaftlichen Bakterien Funktionen wahr, die für unsere Gesundheit unerlässlich sind. Sie verwandeln Nahrung in Nährstoffe und Energie, und synthetisieren Vitamine. Sie bringen unser Immunsystem in Hochform, und warnen das Gehirn vor möglicherweise giftigen Stoffen, indem sie Magen oder Darm zum Reagieren auffordern.

Rolle der Mikrobiota bei Krankheiten des Darmtrakts und anderswo

Wir wissen, dass manche Krankheiten des Verdauungstrakts mit einem Ungleichgewicht der Mikrobiota zusammenhängen, auch Dysbiose genannt. Der Umbruch in der Wissenschaft ist die Erkenntnis, dass selbst bei ursprünglich nicht im Darm auftretenden Krankheiten, eine Dysbiose der Mitverursacher ist. Mehrere Studien weisen nach, dass die Mikrobiota im Darm bei der Pathogenese von Stoffwechselerkrankungen und neurologischen Pathologien eine Rolle spielt. Veränderungen der Mikrobiota könnten zur Entwicklung von Stoffwechselerkrankungen beitragen, die Darmwand wird durchlässiger, was einen chronischen Entzündungszustand verursacht, der seinerseits diese Krankheiten, zudem Herz- Kreislaufleiden und Übergewicht fördert. Eine Veränderung im Gleichgewicht zwischen den Firmicutes und den Bacteroidetes wurde bei Modellen übergewichtiger Tiere berichtet. So konnte man zeigen, dass eine Maus, der man die Mikrobiota eines über- gewichtigen Tieres eingibt, selbst übergewichtig wird. Die Darmbakterien haben einen Einfluss auf die Regulierung der Fettverarbeitung. Heute arbeiten die Teams daran, diese Mikrobiota so zu modifizieren, dass die Durchlässigkeit der Darmwand und damit die riskanten Komplikationen von Übergewicht verringert werden können.

Der Darm als kommunizierendes neurologisches Organ

Von der Anatomie her sind sich Gehirn und Darm ähnlich. Hunderte von Millionen Neuronen, die ihn bedecken, entstammen dem gleichen Embryonalschild. Als sich der Embryo entwickelte, sind einige dieser Neuronen in den Darm und andere in das Gehirn gezogen. Sie haben die gleiche Fähigkeit beibehalten, miteinander zu kommunizieren und zu handeln, Nachrichten zu schicken. Das ist die Rolle des enterischen Nervensystems, einem autonomen, dichten Netz von 9 m Länge, üppig innerviert, das in jeder Hinsicht dem zentralen Nervensystem ähnelt. Die Neuronen sind untereinander verbunden und ihre Hauptaufgabe ist es, die Darmbewegung anzuregen, um die Verdauung zu ermöglichen. Diese Hirn-Darm Interaktion ist vor allem durch chemische Schlüssel möglich: die Neurotransmitter, wie Serotonin. Dieses Wellness-Molekül kommt im Gehirn vor, wo es die Stimmung reguliert. Im Darm bestimmt es den Transit-Rhythmus und kontrolliert unser Immunsystem. Dank des Vagusnervs, können die Signale zwischen Darm und Gehirn hin und her gesendet werden, über die Blutbahn oder die Neuronen. Die Mikrobiota könnte also eine Rolle bei der globalen metabolischen Homöostase spielen, aber auch bei der Physiopathologie bestimmter neurologischer und psychischer Störungen. Anomalien der Mikrobiota wurden bei Patientinnen mit mentaler Anorexie (Magersucht) beobachtet.

Neurologische Erkrankungen wie Parkinson könnten auch mit Anomalien der Mikrobiota in zusammenhängen. Fälle von Verbesserungen der neurologischen Symptome wurden von Parkinson-Patienten berichtet, nach dem ihre Verdauungsprobleme durch Antibio- tika wie Vancomycin geregelt wurden. Wenn man die Neuronen im Darm der Parkin- son-Patienten untersucht, stellt man interessanterweise Anomalien fest, wie sie auch in den Neuronen des Gehirns vorkommen. Man fragt sich, ob die Krankheit nicht vielleicht im Verdauungstrakt beginnt, und dann in die Neuronen des zentralen Nervensystems aufsteigt.

Beim Studieren der häufig beschriebenen Anomalien in der Verdauung autistischer Kinder, haben Forscherteams Anomalien der Mikrobiota bei diesen Kindern beobachtet. Ein Vergleich der fäkalen Mikrobiota von Kindern mit Autismus mit der gesunden Kontrollgruppe zeigt einen signifikant erhöhten Anteil an Clostridium bei der autistischen Gruppe, sowie das Vorkommen spezifischer Bakterien.

Durch diese Studien und Experimente haben Forscher vollkommen neue Wege gefun- den, diese komplexen Pathologien besser zu verstehen und baldmöglichst auf den Patienten zugeschnittene Behandlungen zu entwickeln.

Wie kann man die Mikrobiota des Verdauungstrakts modulieren?

Die Stuhltransplantation

Die Darmflora-Verpflanzung oder Stuhltransplantation bezeichnet die Infusion der Fäkal- lösung eines Gesunden in den Darmtrakt einer anderen Person. Ziel ist die Wiederher- stellung einer gesunden, zweckmässigen Darmflora nach Krankheiten mit Zerstörung des Gleichgewichts der Mikrobiota. Heute wird diese Behandlung routinemässig nur bei einer Pathologie angewendet: die Kolik aufgrund der Vermehrung des Bakteriums Clostridium difficile. Das C. difficile ist eine Bakterie, die für 20-25% der durch Antibiotika-Therapien verursachten Durchfälle verantwortlich ist, sowie für 10% der behandlungsbedingten Durchfälle. Die Einnahme von Antibiotika, die die Darm-Mikrobiota stören, ist einer der Hauptrisikofaktoren für eine Infektion mit Clostridium difficile (ICD). Die damit assoziierte Dysbiose führt zum Verlust der Barrierefunktion der Mikrobiota (oder der Widerstands- kraft gegen die Kolonisierung), und macht so die Kolonisierung durch C. difficile möglich. Die Wiederherstellung der Mikrobiota und seiner Barrierefunktion ist ein wirksames Mittel, um die Infekte und Rückfälle zu bekämpfen. Die Wirksamkeit der Stuhltransplantation ist wahrscheinlich auf die Regeneration dieser «Barriere» bei Patienten mit mehrfachen, wiederholt rückfälligen C. difficile-Infektionen, zurückzuführen. Die Stuhltransplantation wird derzeit als wirksamste Behandlung der Mehrfach-Infektionen mit Clostridium difficile und ihren häufigen Rückfällen betrachtet (> 1 Rückfall), wie die kürzlich ausgesprochenen europäischen und nordamerikanischen Empfehlungen zur Behandlung dieser Erkrankung beweisen. Für alle anderen Fälle bleibt die Stuhltransplantation im Bereich des Experiments und darf nur im strikten Rahmen der klinischen Forschung durchgeführt werden.

Die Probiotika

Probiotika sind lebende, nicht pathogene Mikroorganismen, die meist in Medikamenten- form existieren. Ihre positive Wirkung auf die Gesundheit muss nachgewiesen sein. Man muss aber auch wissen, wann man welche einnimmt, denn niemand kennt die genaue Zusammensetzung seiner Mikrobiota! Jedoch gibt es Situationen, in denen sie interessant sein können, auf Reisen, um der «Turista» vorzubeugen, wenn man Antibiotika einnimmt, aber auch während und nach einer Gastroenteritis, vor allem bei Kindern. Viele Studien haben den Gebrauch von Probiotika zum Thema: bei Reizdarm-Syndrom lindern sie Schmerzen und verbessern Transit und Wohlbefinden der Patienten.

Die Ernährung

Unsere Mikrobiota zu erhalten, ihren Artenreichtum zu fördern, bedeutet, seine Bakterien gut zu füttern. Unsere Ernährungsweise zu überdenken, damit sie ausgewogen und vielseitig ist. Die Bakterien versuchen, die Überreste unserer verdauten Mahlzeiten zu ver- dauen. Und sie wissen nicht, wie man die Nahrungsfasern verdaut, ernähren sich aber trotzdem davon. Die Fasern sind unverzichtbar für eine gesundes Verdauungssystem: sie spielen eine mechanische Rolle und halten die Mikrobiota instand, Garantie einer guten Immunität. Die vegetarischen Fasern (Blätter, Wurzeln, Schalen der Früchte) sind in Wirklichkeit Zucker, genau gesagt, Polysaccharide (unverdaulicher Zucker).

Dann gibt es Lebensmittel, die unsere Bakterien lieben. Diese Elemente nennt man Präbiotika, es sind keine lebenden Organismen wie die Probiotika, aber sie ernähren diese Bakterien. Präbiotika sind z. B. Inulin, Fruktooligosaccharide (FOS), Galactosaccharide (GOS) und Fruktane, auch Laktulose genannt. Ballaststoffreiche Lebensmittel sind die beste Quelle dieser Superchampions der Nahrungsmittel wie z. B. Artischocke, Zwiebel, Topinambur oder Endivien.

Wenn man seinen Darm und seine Mikrobiota pflegen möchte, sollte man vielseitig essen, um ein gutes Gleichgewicht zu finden. Essgewohnheiten ändern, selbst als Erwachsener, kann unsere Mikrobiota modifizieren. Es ist also nie zu spät, seine Ernährung umzustellen, und ausreichend Fasern und Präbiotika zu sich zu nehmen. Das nährt unsere Darm-Mikrobiota und bewahrt unser Kapital Gesundheit und Wohlbefinden.

Schlusswort

Die Darm-Mikrobiota besteht aus mehr als 100 000 Milliarden Mikroorganismen, d.h. 10- mal mehr als es Zellen im menschlichen Körper gibt. Und wenn man das DNS betrachtet, hat das genetische Material der Darmbakterien 10-mal mehr Gene als wir menschliche Gene haben. Ein ins Ungleichgewicht geratenes Ökosystem kann Beginn oder lange Dauer chronischer Krankheiten verursachen, seien sie Darminfektionen oder nicht. Die Mikrobiota modulieren ist ein interessanter therapeutischer Ansatz in vielen Krankheiten. Sie wird eine Schlüsselfigur der Prävention. Die Fortschritte in der Erforschung der Mikrobiota sind rasant, und bald wird es möglich sein, eine «Kartographie» unserer inneren Welt zu zeichnen. Persönliche Beratung, um manchen Krankheiten vorzubeugen und, warum nicht einfach, um unser Wohlbefinden und Lebensqualität zu verbessern?

Für weitere Informationen

  • «Darmgesundheit und Mikrobiota» Ein Überblick über die Bedeutung der Darmbakterien für die Gesundheit (essentials) Taschenbuch – 4. Dezember 2014, von Dirk Haller und Gabriele Hörmannsperger, Springer Spektrum
  • «Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit» Neueste Erkenntnisse aus der Mikrobiom- Forschung Gebundene Ausgabe – 3. November 2014, von Dr. Anne Katharina Zschocke, Knaur
  • «Darm krank – alles krank» Hilfe mit ganzheitlicher Therapie Taschenbuch, von Jörn Reckel und Wolfgang Bauer, Verlagshaus der Arzte
  • «Gesunder Darm» gesundes Leben, von Joachim Bernd Vollmer, Knaur
  • «Allergie und Mikrobiota» von Rainer Schmidt und Susanne Schnitzer, Haug

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